Gabor Maté - Wie Kindheitstrauma zu Sucht führt

TRANSKRIPT

Eine Sucht ist ein komplexer psychologischer und physiologischer Prozess und manifestiert sich in jedem Verhalten, welches einer Person kurzfristig Erleichterung verschafft und daher begehrenswert erscheint, jedoch langfristig negative Konsequenzen hat und trotzdem nicht aufgegeben wird. Es geht hierbei um das Verlangen nach Wohlbefinden und kurzfristiger Erleichterung, den langfristigen negativen Konsequenzen davon und die Unfähigkeit, davon grundsätzlich loszukommen.

 

Eine Sucht bezieht sich nicht ausschließlich auf das Konsumieren von Substanzen. Es kann mit Kokain, Crystal Meth, Heroin, Zucker, Marihuana, Nikotin, Alkohol oder was auch immer in Verbindung gebracht werden. Es kann sich hierbei auch um Sex, Glücksspiel, Internet, Beziehungen, Shopping, Essen, Arbeit, Extremsport, Fitness, Pornographie oder jegliche andere beliebige menschliche Aktivität handeln.

 

Die offizielle Definition von Sucht entsprechend der American Society for Addiction Medicine besagt, dass es sich um eine primäre Gehirnstörung handelt. Sie entwickelt sich im Gehirn und hat hauptsächlich genetische Gründe. So die offizielle Erklärung.Und ich sage, dass das schlichtweg falsch ist. Die andere populäre Idee über die Gründe einer Sucht ist, dass es sich um eine persönliche Wahl handelt, die jemand trifft. Dass Menschen sich dafür entscheiden, süchtig zu sein und genau darauf basiert das staatliche Rechtssystem. Denn wenn Menschen keine Wahl treffen würden, wofür könnte man sie dann bestrafen? Und obwohl der medizinische Ansatz dieser Erklärung näher an der Wahrheit ist, handelt es sich weder um eine genetische Programmierung, noch um eine primäre Gehirnstörung. Die Gründe sind wie folgt zu verstehen. Ein Mensch hat neben den physischen Bedürfnissen in der Kindheit zwei grundlegende Bedürfnisse. Das eine ist die menschliche Bindung. Bindung ist die Nähe und Verbundenheit zu einem anderen Menschen, um entweder versorgt zu werden oder um den anderen zu versorgen.

 

Menschen und Säugetiere im Allgemeinen haben das Bedürfnis nach gegenseitiger Bindung. Wir müssen uns verbinden, weil wir sonst nicht überleben können. Wenn niemand motiviert ist, sich um uns zu kümmern oder sich an uns zu binden, und wir nicht motiviert sind, uns um andere zu kümmern, können wir einfach nicht überleben.

 

Eines der charakteristischen Merkmale hierfür ist, dass Endorphine, als die körpereigenen Opiat-Chemikalien, vergleichbar mit Heroin und anderen Opiaten , solch eine menschliche Bindung erleichtern.

 

Wenn Sie beispielsweise bei neugeborenen Mäusen die Endorphin Rezeptoren blockieren, sodass sich keine endogene Opiat-Aktivität im Gehirn entwickelt, werden sie nicht um Hilfe rufen und sich von ihren Müttern entfernen, was bedeuten würde, dass sie in freier Wildbahn sterben würden.

Was bedeutet, dass sich bei Stress und Traumata in der frühen Kindheit, das menschliche Endorphin-System nicht richtig entwickeln kann

Und wenn Menschen dann Heroin nehmen, fühlt es sich für sie wie eine warme, sanfte Umarmung an. Sie empfinden zum ersten Mal Liebe und Verbundenheit. Das macht es so mächtig. Wir empfinden dieses Bedürfnis nach Bindung, das menschliche Baby, welches hilflos, abhängig und unreif auf die Welt kommt, kann ohne Bindung nicht überleben. Diese Abhängigkeitsbeziehung, welches beim Menschen eine der längsten Bindungen in der ganzen Tierwelt ist, andauernd bis ins Jugendalter und darüber hinaus, macht die menschliche Bindung zu einer nicht verhandelbaren Notwendigkeit.

Das zweite Bedürfnis, ist das Bedürfnis nach Echtheit oder Authentizität. Echtheit bedeutet, mit uns selbst verbunden zu sein, die eigenen Gefühle zu erkennen und danach zu handeln. Das bedeutet, dem eigenen Bauchgefühl zu vertrauen. Schaut man sich an, wie sich die menschliche Spezies entwickelt hat, dann haben wir die längste Zeit nicht in Städten und Häusern gelebt. Wir lebten die größte Zeit unserer Existenz in der Wildnis. Ohne einer tiefen Verbundenheit zu unserem Bauchgefühl haben wir nicht sehr lange überleben können. In der Wildnis war das innere Bauchgefühl meist überlebenswichtiger, als der rationale Geist. Bindung und Authentizität sind somit grundsätzlich starke Überlebensbedürfnisse. Aber was passiert, wenn diese beiden Grundbedürfnisse in Konflikt zu einander stehen? Zum Beispiel werden Sie als Zweijähriger wütend, weil Sie den Keks vor dem Abendessen nicht bekommen haben. Aber Ihre Eltern können mit Wut nicht umgehen, weil sie in einem Umfeld aufgewachsen sind, in welchem Wut zur Norm gehörte und sie sind gegenüber dem reinen Ausdruck von Wut sehr verängstigt.

 

Daher vermitteln sie ihrem Kind die Botschaft, dass brave Kinder nicht wütend werden. Die Botschaft, welche das Kind erhält, lautet jedoch nicht, dass brave Kinder nicht wütend werden, sondern dass wütende Kinder keine Liebe bekommen. Denn das Kind denkt sich, meine Eltern sind mürrisch, sie sprechen mit mir auf harsche Weise, ich bekomme keine Liebe. Man erfährt in diesem Moment keine Liebe mehr. Das Kind weiß aber, dass es anhänglich ist, also unterdrückt es jedes Mal die eigene Authentizität. Und so verlieren wir die Verbindung zu uns selbst und zu unseren Bauchgefühlen. Auf seltsame Weise wird diese dynamische Beziehung, die für das menschliche Überleben in natürlicher Umgebung wesentlich ist, zu einer Bedrohung für unser Überleben in dieser moderneren Umgebung, in der die Authentizität die Bindung gefährdet. Also geben wir unsere Echtheit auf und fragen uns dann, wer zum Teufel wir sind und wessen Leben das ist? Und warum das eigene Leben nicht zu einem passt.

 

Und deshalb muss eine Wiederverbindung mit unseren Bauchgefühlen stattfinden. Nur so kann es zu einer Heilung kommen. Aufgrund dieses tragischen Konflikts in der Kindheit zwischen Echtheit und Bindung, mit welchem die meisten von uns konfrontiert sind, verlieren wir uns selbst und verlieren die Verbindung zu unseren Bauchgefühlen. Das führt uns zur der Frage was ein Trauma ist. Denn man kann zwar erkennen, dass all dies im Kindheitsleid seinen Ursprung hat. Es ist jedoch etwas ganz anderes, dieses Leid zu transformieren. Und dafür müssen wir verstehen, was ein Trauma ist. Viele Menschen denken oftmals, dass ein Trauma etwas ist, was uns widerfahren ist. Trauma ist jedoch nicht die Scheidung der Eltern im Kindesalter. Trauma ist nicht die Depression der Mutter. Trauma ist auch nicht der Alkoholismus des Vaters. Trauma ist ebenso kein physischer oder sexueller Missbrauch oder irgendein Verlust. Das sind alles traumatische Ereignisse. Das Trauma hingegen beschreibt was als Folge von traumatischen Ereignissen in einem selbst passiert. Das Trauma beschreibt eine Dissonanz zu den eigenen Emotionen und zum eigenen Körper. Man entwickelt Schwierigkeiten im gegenwärtigen Moment zu sein und entwickelt eine negative Sicht auf die Welt, eine negative Sicht auf sich selbst und eine defensive Sicht auf andere Menschen.

 

Und diese Perspektiven zeigen sich immer wieder im eigenen gegenwärtigen Leben. Mit anderen Worten, eine Sucht selbst ist nicht das eigentliche Problem. Sie ist ein Versuch, ein Problem zu lösen. Und die eigentliche Frage sollte lauten, wie das Problem entstanden ist? Meine Theorie besagt also, dass jegliche Sucht immer in traumatischen Kindheitserfahrungen verwurzelt ist und die Sucht ein Versuch ist, mit den Auswirkungen dieser traumatischen Kindheitserlebnisse umzugehen. Was vorübergehend gelingt, während es langfristig noch mehr Probleme schafft. Die eigentliche Aufgabe besteht also nicht nur darin, zu erkennen, was in der Vergangenheit passiert ist, sondern auch die Manifestationen im gegenwärtigen Moment zu erkennen und sie zu überwinden. Und wie gelingt das? Durch die Wiedervereinigung mit sich selbst, durch die Wiederbelebung der inneren Verbundenheit zum eigenen Körper und Geist, durch die Aufarbeitung der eigenen verlorengegangenen Emotionen. Wenn man das umsetzen kann, dann spricht man von Genesung. Genesung bedeutet die eigene mentale Gesundheit wiederzufinden.

 

Der Verlust des Selbst ist das Wesen des Traumas. Daher besteht der eigentliche Zweck der Suchtbehandlung, in der Behandlung von psychischen Problemen und jeder anderen Art von Heilung des inneren Geistes.

 

Wir mögen nicht für die Welt verantwortlich sein, welche unseren Verstand und Geist erschaffen hat, aber wir können Verantwortung übernehmen, für die Welt, welche wir mit unserem Verstand erschaffen.